Den antisemitischen Konsens benennen – 2 Jahre nach dem 7. Oktober 2023

Heute, am 7. Oktober jährt sich das antisemitische Massaker in Israel zum zweiten Mal.

Angesichts des grausamen Vorgehens Israels in Gaza, gerät der grassierende Antisemitismus schnell aus dem Blick. Das Leid der Palästinenser*innen durch diesen Einsatz ist durch nichts zu rechtfertigen und die Forderung nach dessen Ende ist legitim und notwendig.

Gleichzeitig hat sich seit dem 7. Oktober ein antisemitischer Konsens etabliert, den es klar zu benennen gilt. Wer für Frieden und Freiheit in Nahost einsteht, muss dabei auch Antisemitismus thematisieren!

Der 7. Oktober 2023

In den frühen Morgenstunden des 7.10.2023 überquerten palästinensische Terroristen die Grenze zu Israel und ermordeten, vergewaltigten und entführten dort wahllos tausende Menschen. Sexualisierte Gewalt wurde gezielt eingesetzt, um Frauen zu terrorisieren und zu demütigen. Die Gewalt richtete sich insbesondere gegen die israelische Friedensbewegung und traf zahlreiche Aktivist*innen, welche sich jahrelang für die Rechte der Palästinenser*innen einsetzten und aktive Hilfe in Gaza und dem Westjordanland leisteten. Die Terroristen filmten und feierten den von ihnen verübten schlimmsten Massenmord an Jüdinnen und Juden seit der Shoah. 251 Menschen wurden als Geiseln nach Gaza verschleppt, wo sie unter physischer, psychischer und insbesondere sexueller Gewalt zu leiden hatten und teils bis heute haben. 

Der antisemitische Terrorakt zielte auf eine Vernichtung jüdischen Lebens und des Staates Israel und sollte Jüdinnen und Juden weltweit klar machen, dass sie sich nirgends sicher fühlen können.

Antisemitismus – einige Zahlen

Doch das Aufflammen einer neuen Dimension antisemitischer Gewalt sollte sich nicht nur auf einen Tag beschränken, sondern breitete sich weltweit aus. 

Auch wenn sich die antisemitische Realität wohl kaum in ein paar Zahlen fassen lässt, so sollte doch das Ausmaß des antisemitischen Gewaltpotentials, welches seit dem 7. Oktober in Studien erfasst wurde, schockieren, insbesondere, wenn man sich die hohe Anzahl nicht statistisch erfasster Fälle vor Augen hält.

In einer weltweiten Studie mit über 58.000 Teilnehmenden in 103 Ländern äußerten 23%  eine Sympathie gegenüber der Hamas. 40% der unter-35-jährigen machen Israel für den Großteil der Kriege weltweit verantwortlich (1).

In den USA wurde im vergangenen Jahr ein Höchststand der antisemitischen Vorfälle seit Beginn der Aufzeichnung festgestellt. Es gab dort landesweit 627 Bombendrohungen gegen jüdische Gemeinden (2). 87% der US-amerikanischen Jüdinnen und Juden nehmen eine Zunahme des Antisemitismus in den USA seit dem 7. Oktober wahr; 42% fühlen sich unsicher, jüdische Symbole in der Öffentlichkeit zu tragen (3). In Großbritannien sehen 82% der Jüdinnen und Juden Antisemitismus als Problem an, 35% fühlen sich unsicher und 32% haben 2024 (mindestens) einen antisemitischen Vorfall erlebt (4). 19% der Franzosen finden es gerechtfertigt, jüdische Menschen aufgrund ihrer (vermeintlichen) Unterstützung Israels anzugreifen (5); in Italien finden 15% der Menschen Angriffe auf Jüdinnen und Juden gerechtfertigt (6). 

In Deutschland wurden im vergangenen Jahr knapp 24 antisemitische Vorfälle pro Tag verzeichnet, darunter 8 Fälle extremer Gewalt, 186 Angriffe und 300 Bedrohungen. Dies stellt einen Anstieg um 77% im Vergleich zu 2023 dar (7). Ende 2023 mussten über 40% der jüdischen Gemeinden in Deutschland Veranstaltungen aufgrund von Sicherheitsbedenken absagen. 42% der jüdischen Gemeinden in Deutschland waren im Verlauf des Jahres 2024 von antisemitischen Vorfällen betroffen. 82% der Führungspersönlichkeiten der jüdischen Gemeinden vertreten die Ansicht, dass es unsicherer geworden sei, als Jüdin oder Jude in Deutschland zu leben und sichtbar zu sein (8). 

In Nordrhein-Westfalen wurden 2024 940 antisemitische Vorfälle gemeldet, davon 96 im Hochschulkontext (9).

Eine qualitative Studie kommt zu dem Schluss: 

“Die im Datenmaterial identifizierten Grundmuster der Relativierung, Legitimation und Verherrlichung der genozidalen Gewalt des 7. Oktober, das von Studienteilnehmenden benannte Schweigen, die Indifferenz, Täter*innen-Opfer-Umkehr bis hin zu offener Feindschaft führen dazu, dass Studienteilnehmer*innen eine doppelte Invalidation erfahren – einerseits durch den 7. Oktober und andererseits durch die in weiten Teilen antisemitisch strukturierte gesellschaftliche Debatte über die Bedeutung dieser Gewalt. Aus der Perspektive der prozessualen Gewaltsoziologie wird zudem deutlich, dass der jüdischen Gemeinschaft die Definitionsmacht über die (unmittelbar) erfahrene Gewalt diskursiv entzogen wird. Damit setzt sich die Erfahrung von Gewalt nicht allein in der unmittelbaren Verwundung fort, sondern auch in der Fremdaneignung der Deutungshoheit über das Erlebte.” (10)

Antisemitismus – einige Fälle

Hinter all diesen Zahlen steckt eine reale Bedrohung für jüdisches Leben. Jeder antisemitische Vorfall hängt mit realer Gefahr und Angst zusammen. Das gilt es endlich uneingeschränkt ernst zu nehmen! 

Während der Anschlag eines 18-jährigen auf das NS-Dokumentationszentrum und das israelisches Generalkonsulat in München am 5.9.24 oder der islamistische Terroranschlag in Solingen am 23.8.24 als Racheakt für die palästinensische Bevölkerung, noch Schlagzeilen machten, fanden schon der Brandanschlag auf eine Berliner Synagoge am 18.10.23 oder der Brandanschlag auf eine Berliner Gymnasium unter dem Motto “Brennt Gaza, brennt Berlin” am 13.7.24 deutlich weniger Beachtung. Die zahlreichen körperlichen und teils lebensbedrohliche Angriffe auf Jüdinnen und Juden und Teilnehmer*innen an antisemitismuskritischen Kundgebungen wird wohl kaum noch wer mitbekommen haben. Ein Großteil davon findet sich vermutlich nichtmal mehr in Statistiken. 

Auch im öffentlichen Raum sollen sich Jüdinnen und Juden nicht wohlfühlen. Erst letzte Woche konnten einige Jüdinnen und Juden die Synagoge am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur nicht sicher verlassen, weil eine vorgeblich “pro-palästinensische” Demo vorbeizog. 

Auf den Straßen findet man seit dem 7. Oktober regelmäßig antisemitische Gewaltphantasien. So wurden in Berlin und anderen Städten mehrfach die Haustüren jüdischer Menschen mit Davidstern markiert. In Bonn wurde am 16.6.25 eine Schmiererei mit einem Davidstern an einem Galgen und der Überschrift “Free Palestine 4ever” gesichtet.  Die Symbolik der roten Dreiecke, welche von der Hamas zur Feindmarkierung verwendet werden, sind in vielen deutschen Städten mittlerweile sehr präsent. Auch in Bonn nutzen linke und vorgeblich “pro-palästinensische” Gruppen das Symbol selbstbewußt und markierten damit z.B. das Rektorat der Uni oder das Uni Hauptgebäude. 

Innerhalb der (radikalen) Linken bricht sich also eine immer enthemmtere antisemitische Gewalt Bahn. Es gibt wohl keine antisemitismuskritische linke Gruppe in Deutschland, die nicht von verbalen oder körperlichen Angriffen, Morddrohungen, Doxings, oder Farb- oder Brandanschlägen auf ihre Räumlichkeiten seit dem 7. Oktober berichten kann. Prominentestes Beispiel ist wohl die Berliner Szenekneipe Bajzsel, in der seit dem 7. Oktober regelmäßig die Scheiben eingeworfen werden sowie Mitarbeiter*innen und Gäste antisemitisch beleidigt und verfolgt werden. Viele linke Projekte, insbesondere im Osten, stehen vor dem Aus, weil sie dem antisemitischen Druck nicht länger Stand halten können. 

Auch in Bonn griffen vor einigen Wochen autoritäre Linke eine Veranstaltung des Bündnis gegen Antisemitismus an. Vier Vermummte kamen am Ende zu der Veranstaltung, bedrängten Teilnehmende, die gerade gehen wollten, und riefen u.a.: “Zionisten raus aus Bonn”.  Die Veranstaltung und der Angriff fand in der Alten VHS, dem einzigen linken Zentrum Bonns statt. Ein solcher Angriff ist nicht nur ein weiterer Angriff autoritärer Linker auf ihr starres Feindbild, sondern ein Angriff auf alle, die für solidarische Räume einstehen.

Diese antisemische Gewalt ensteht nicht im luftleeren Raum, sondern sie erwächst aus der anhaltenden Normalisierung antisemitischer Rhetorik, welche mitgetragen von der (radikalen) Linken, seit dem 7. Oktober rasch voranschreitet. Bereits am 7. Oktober feierten linke Gruppen in Bonn und weltweit den Terror der Hamas als Widerstandsakt. Der Aufruf zur (globalen) Intifada, Sympathien gegenüber der Hamas und anderen islamistischen Grupppen, Vernichtungsphantasien gegen Israel und jüdisches Leben allgemein sowie Täter-Opfer Umkehr und Vergleiche von Israel mit dem Nationalsozialismus sind seitdem von keiner vorgeblich “pro-palästinensischen” Demo mehr wegzudenken.

Antisemitismus auf den Begriff bringen

Wir sagen klar: Antisemitismus ist ein Problem!

Betroffenen muss Gehör und Glauben geschenkt werden!

Wer ernsthaft an einer befreiten Gesellschaft interessiert ist und der voranschreitenden autoritären Formierung der Gesellschaft nachhaltig etwas entgegensetzen will, muss Antisemitismus als Problem begreifen.

Wem Frieden und Freiheit für die palästinensische Bevölkerung ein ernsthaftes Anliegen sind, darf das Problem des Antisemitismus, das Grundlage zahlreicher Aggressionen im Nahen Osten ist, nicht ausblenden.

Statt plumper Parolen, manischäischer Freund-Feind-Schemata und projektivem Antizionismus oder des unreflektierten, instrumentellen Gebrauchs des Antisemitismusvorwurfs braucht es einen differenzierten Umgang mit dem Thema und einen Begriff des Antisemitismus, der eben diese Phänomene als seine Elemente enthält.

Quellen

(1) https://www.adl.org/resources/press-release/46-adults-worldwide-hold-significant-antisemitic-beliefs-adl-poll-finds

(2) https://www.adl.org/resources/report/audit-antisemitic-incidents-2024

(3) https://www.ajc.org/news/survey2024

(4) https://www.jpr.org.uk/reports/two-years-after-october-7-attacks-british-jewish-views-antisemitism-israel-and-jewish-life

(5) https://www.crif.org/sites/default/fichiers/images/documents/121834_-_rapport.pdf

(6) https://www.reuters.com/world/italy-poll-finds-15-see-attacks-jewish-people-justifiable-2025-09-30/

(7) https://report-antisemitism.de/documents/04-06-25_RIAS_Bund_Jahresbericht_2024.pdf

(8) https://www.zentralratderjuden.de/wp-content/uploads/2025/03/ZDJ_GC-War_3009b-1.pdf

(9) https://report-antisemitism.de/rias-nrw/#publications

(10) www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/aktuelles/DE/2025/20250930_PK_Antisemitismus.h